Selen­skyj und die Olig­ar­chen: vom Spieler zum Getriebenen

Selenskyj und die Oligarchen
© Shut­ter­stock

Der his­to­ri­sche Sieg Selen­skyjs vor etwas mehr als einem Jahr kam einem poli­ti­schen Erd­be­ben gleich. Im Wahl­kampf hatte der Polit-Novize unter anderem ver­spro­chen, der Straf­lo­sig­keit der wirt­schaft­li­chen und poli­ti­schen Eliten endlich ein Ende zu setzen. Was hat Selen­skyj in seinem ersten Amts­jahr im Kampf gegen die Olig­ar­chen erreicht? Von Mattia Nelles

Selen­skyjs Wahl­er­folg grün­dete auf einer Allianz mit dem Olig­ar­chen Ihor Kolo­mo­js­kyj, der es Selen­skyj durch seinen Fern­seh­ka­nal 1+1 ermög­lichte, ein breites Mas­sen­pu­bli­kum zu errei­chen. Dass aus­ge­rech­net der ruch­lo­seste Olig­arch ent­schei­dend zum Sieg Selen­skyjs beitrug, küm­merte erstaun­li­cher­weise nur wenige Ukrai­ner. Zu groß war der Frust mit der eta­blier­ten poli­ti­schen Elite.

Bei einigen Beob­ach­tern gab es die Befürch­tung, dass diese Allianz dazu führen könnte, dass Selen­skyj fortan Politik im Sinne Kolo­mo­js­kyjs machen würde. Würde er es etwa wagen, die 2016 ver­staat­li­che Pri­vat­Bank an Kolo­mo­js­kyj zurück­zu­ge­ben? Selen­skyjs Kri­ti­ker sahen sich in der Ernen­nung Andrij Bohdans zum Leiter des Prä­si­den­ten­bü­ros bestä­tigt, der lange als Anwalt für den Olig­ar­chen gear­bei­tet hatte. Auch die Tat­sa­che, dass Kolo­mo­js­kyjs Ver­traute wie Olek­sandr Dubin­skyj, Olga Wasy­l­ewska-Sma­glyuk und Olek­sandr Tkat­schenko für die eilig zusam­men­ge­stellte Partei Diener des Volkes kan­di­dier­ten, gab zu beden­ken. Trotz­dem wurden keine Günst­linge von Kolo­mo­js­kyj zu Minis­tern ernannt oder konnten die Kon­trolle über lukra­tive Staats­un­ter­neh­men übernehmen.

Bei den Par­la­ments­wah­len im Juli 2019 konnte Selen­skyj eine his­to­ri­sche Mehr­heit errin­gen. Unter Hoch­druck begann die erste Phase der Selen­skyj-Prä­si­dent­schaft, die des Tur­bo­re­gimes: In den ersten acht Monaten der Prä­si­dent­schaft wurden 188 Gesetzte durch­ge­peitscht, ein refor­me­ri­sches Kabi­nett und ein geschätz­ter Gene­ral­staats­an­walt eingesetzt.

Statt auf Kon­fron­ta­tion mit den Olig­ar­chen des Landes zu setzen, ver­suchte sich der Prä­si­dent in dieser Zeit eher als Media­tor zu insze­nie­ren. Selen­skyj empfing Olig­ar­chen offen in seinem Prä­si­den­ten­büro. In seiner prag­ma­ti­schen Inter­ak­tion mit den Wirt­schafts­bos­sen des Landes ähnelte sein Füh­rungs­stil dem von Ex-Prä­si­dent Leonid Kut­schma. Dieser Balan­ce­akt geriet erst ins Wanken, als Kolo­mo­js­kyj zuneh­mend zum Problem für Selen­skyj wurde – und die kom­for­ta­ble Mehr­heit von Selen­skyjs Partei sich all­mäh­lich als fragil entpuppte.

Grund dafür war unter anderem der schwe­lende Kon­flikt um die Pri­vat­Bank. Im Gegen­zug für drin­gend benö­tigte Hilfs­kre­dite fordert der Inter­na­tio­nale Wäh­rungs­fonds (IWF) die Ver­ab­schie­dung eines Ban­ken­ge­set­zes, welches es Kolo­mo­js­kyj unmög­lich machen würde, Kom­pen­sa­tio­nen für seine ver­lo­rene Bank zu erhal­ten. Die infor­melle »Kolo­mo­js­kyj-Frak­tion« im Dienste des Olig­ar­chen – mitt­ler­weile rund 30 Abge­ord­nete – ver­suchte, die Lex Kolo­mo­js­kyj mit allen Mitteln und legis­la­ti­ven Win­kel­zü­gen (dar­un­ter mehr als 16.000 Ände­rungs­vor­schläge) zu ver­hin­dern. Im April musste das Gesetz in erster Lesung mit Stimmen der Oppo­si­tion ver­ab­schie­det werden – ein herber Macht­ver­lust für Selen­skyjs »Mono­ma­jo­ri­tät«. [Am 13.05.2020 wurde das Gesetz in zweiter Lesung ver­ab­schie­det, Anm. d. Red.]

Ob und inwie­fern die Aus­ein­an­der­set­zung weiter eska­liert, ist offen. Klar ist jedoch, dass Selen­skyj wegen des Ver­lus­tes seiner Mehr­heit anfäl­li­ger für Avancen anderer Olig­ar­chen gewor­den ist. Hinzu kommt, dass seine Hire und Fire-Per­so­nal­po­li­tik der von US-Prä­si­dent Donald Trump in nichts nach­steht. Auf­grund der Kader­schwä­che in den eigenen Reihen der Partei und im über­schau­ba­ren Umfeld der Ver­trau­ten des Prä­si­den­ten gestal­tet sich die Rekru­tie­rung von fähigem Per­so­nal als kom­pli­ziert. Die wirt­schaft­li­chen Folgen der Corona-Pan­de­mie ver­stär­ken Selen­skyjs Schwä­che noch einmal.

Als beson­ders »hilf­reich« hat sich wieder einmal der mäch­tige Olig­arch Rinat Ach­me­tow erwie­sen. Das poli­ti­sche Wochen­ma­ga­zin Nowoe Wremja titelte vor Kurzem »Prä­si­den­ten kommen und gehen, aber Rinat bleibt« und sieht derzeit ein Come­back des 2019 noch abge­schrie­be­nen Olig­ar­chen. Anders als Kolo­mo­js­kyj setzt Ach­me­tow auf die Durch­set­zung seiner Inter­es­sen im Stillen. Ach­me­tows Fern­seh­sen­der berich­ten seit wenigen Monaten im Gegen­satz zu Kolo­mo­js­kyjs 1+1 aus­ge­spro­chen positiv über die Selen­skyj-Regie­rung. Das ist ange­sichts des Fehlens eines Haus- und Hofsen­ders des Prä­si­den­ten von zen­tra­ler Bedeu­tung. Dass vor kurzem mit Pre­mier­mi­nis­ter Denys Schmyhal, der früher für ein Unter­neh­men von Ach­me­tow gear­bei­tet hatte, und Ener­gie­mi­nis­te­rin Olha Bus­la­wez, der eine man­gelnde Distanz zum Olig­ar­chen nach­ge­sagt wird, zwei Per­so­nen aus Ach­me­tows Netz­werk in Schlüs­sel­po­si­tio­nen gelangt sind, schwächt sein Gehör beim Prä­si­den­ten sicher nicht.

Ähnlich wie zu Beginn der Prä­si­dent­schaft Selen­skyjs muss jetzt genau­es­tens beob­ach­tet werden, ob und wie der Prä­si­dent Politik im Sinne eines bestimm­ten Olig­ar­chen macht, ihnen gar lukra­tive Auf­träge oder Posten zuschanzt. Eins ist aber nach einem Jahr Selen­skyj klar: Der eins­tige Polit-Novize ist in der ukrai­ni­schen Politik ange­kom­men. Wie seine Vor­gän­ger muss Selen­skyj sich in einen intrans­pa­ren­ten Geflecht von Bezie­hun­gen und Inter­es­sen zurecht­fin­den. Ob es ihm gelingt, diesen Balan­ce­akt zuguns­ten wei­te­rer tief­grei­fen­der Refor­men zu nutzen, bleibt abzu­war­ten. Die geschei­terte Jus­tiz­re­form, eine mög­li­che poli­ti­sche Ver­fol­gung Poro­schen­kos und die Ent­las­sun­gen meh­re­rer refor­mis­ti­scher Kräfte in den ver­gan­ge­nen Wochen werfen aber zumin­dest große Zweifel auf.

Dieser Text erscheint par­al­lel in den Ukraine Ana­ly­sen 334.

Textende

Portrait von Mattia Nelles

Mattia Nelles lebt nor­ma­ler­weise in der Ukraine, wo er zur Ost­ukraine arbeitet. 

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