In der Ukraine wachsen anti­west­li­che Ressentiments

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In seiner Kolumne berich­tet Wolo­dymyr Jer­mo­lenko über wach­sende, besorg­nis­er­re­gende anti­west­li­che Res­sen­ti­ments. Die Des­in­for­ma­tio­nen sollen Miss­trauen streuen, fallen aber bis dato kaum auf frucht­ba­ren Boden.

Die Ukraine im Jahr 2020 ist eine andere als die Ukraine ein Jahr zuvor. Obwohl Prä­si­dent Selen­skyj die EU-Annä­he­rung und den pro-west­li­chen Kurs bei­be­hält, werden in der Ukraine alter­na­tive Stimmen immer lauter.

Wich­tige Trends habe ich schon in diesem Artikel beschrie­ben, deshalb möchte ich in dieser Kolumne nur auf einige Punkte ein­ge­hen. Einige Refor­mer um Prä­si­dent Selen­skyj wurden in den letzten zwei Monaten ent­las­sen (dar­un­ter Pre­mier­mi­nis­ter Hont­scha­ruk, Gene­ral­staats­an­walt Ria­boschapka und der Chef der Zoll­be­hörde Nefio­dow). Auch die Reform des Gesund­heits­we­sens wird wahr­schein­lich noch­mals genau über­dacht. Justiz und Polizei kehren, so scheint es, zu einem Status vor der Maidan-Revo­lu­tion zurück, der von weniger Trans­pa­renz geprägt war. Die Errun­gen­schaf­ten des Maidans werden in Frage gestellt, in dem die Ver­ant­wor­tung für die Tötun­gen im Januar und Februar 2014 teil­weise den Demons­tran­ten selbst zuge­scho­ben wird. In der Erin­ne­rungs­po­li­tik fällt es dem ukrai­ni­schen Par­la­ment schwer, sich der Tra­di­tion des gemein­sa­men, euro­päi­schen Geden­kens an den Zweiten Welt­krieg anzu­schlie­ßen. Auch andere besorg­nis­er­re­gende Ent­wick­lun­gen kommen derzeit zum Vorschein.

Die Haupt­pro­bleme liegen bei der Polizei und der Justiz.

Die Polizei, die Gene­ral­staats­an­walt­schaft und die Justiz ent­wi­ckeln sich zu einem auto­no­men Gebilde zurück, dass von der alten „Elite“ kon­trol­liert wird, deren Mit­glie­der sich gegen­sei­tig schüt­zen und Refor­men zu ver­hin­dern ver­su­chen. Wenn Russ­land von einer „KGB-Mafia“ regiert wird, so wird die Ukraine von einer „Justiz-Mafia“ regiert, die Revo­lu­tio­nen und Regie­rungs­wech­sel offen­sicht­lich über­lebt. Diese Clique ist wahr­schein­lich nicht so teuf­lisch wie die „KGB-Mafia“, sie hindert die Ukraine jedoch daran, vor­wärts zu kommen.

Darüber hinaus kommen auch in den Medien und im Infor­ma­ti­ons-Sektor revan­chis­ti­sche Ten­den­zen zum Vor­schein. So gibt es harte und aggres­sive Kam­pa­gnen gegen den pro-west­li­chen Kurs der Ukraine, die wir bei „Inter­news Ukraine“ und Ukrai­ne­World genau beob­ach­ten. Diese Kam­pa­gnen haben ihren Ursprung in pro-rus­si­schen Kreisen, sind jedoch nicht auf diese beschränkt. Pro-rus­si­sche Akteure wie Wiktor Med­wedt­schuk (Putins wich­tigs­ter Ver­bün­de­ter in der Ukraine) und seine Partei OPSZ (Anm: Oppo­si­ti­ons­platt­form für das Leben) spielen dabei eine ent­schei­dende Rolle. Med­wedt­schuk hat in den letzten Jahren mehrere Fern­seh­sen­der gekauft und kon­trol­liert derzeit die Hälfte der ukrai­ni­schen Nach­rich­ten­sen­der (indi­rekt soll er die Kanäle 112, NewsOne und ZIK kon­trol­lie­ren). Poli­ti­ker wie Andrij Portnow und Olena Lukasch, die einst dem gestürz­ten Prä­si­den­ten Janu­ko­wytsch nahe­stan­den, treten wieder auf die Bühne: Sie nutzen soziale Netz­werke und sind oft in Med­wedt­schuks TV-Kanälen zu sehen.

Zu guter Letzt treten auch Akteure um den Olig­ar­chen Ihor Kolo­mo­js­kyj in Erschei­nung. Dieser fordert seine Pri­vat­Bank zurück und macht die ehe­ma­lige ukrai­ni­sche Regie­rung, den Inter­na­tio­na­len Wäh­rungs­fond und die USA für deren Ver­staat­li­chung ver­ant­wort­lich. Die Sprach­rohre des Olig­ar­chen nutzen und miss­brau­chen dabei Tele­gram, einen rus­si­sches Mes­sen­ger Dienst, das im Infor­ma­ti­ons­krieg in der Ukraine immer popu­lä­rer wird. Über ein Netz­werk von Tele­gram-Kanälen mit tau­sen­den Fol­lo­wern, bom­bar­die­ren sie ihre Leser mit nicht über­prüf­ba­ren Anschul­di­gun­gen, hate speech und obs­zö­ner Sprache. Obwohl sich die vir­tu­elle Rea­li­tät auf Tele­gram immer mehr von den der echten Medien ent­fernt, wird der Mes­sen­ger Dienst als Medium immer einflussreicher.

(Des)Informationskrieger wollen zerstören

All diese Akteure steuern eine Armee von (Des)Informationskriegern. Sie nutzen Infor­ma­tio­nen aus­schließ­lich als mani­pu­la­tive Waffe. Ihr Ziel ist es nicht zu infor­mie­ren, sondern zu defor­mie­ren und zu zer­stö­ren. Was sie vereint ist ihr Hass gegen den Westen, die Ver­ei­nig­ten Staaten und die EU (inklu­sive Deutsch­land). Sie ver­brei­ten den Mythos eines über­mäch­ti­gen und über­mensch­li­chen George Soros, der angeb­lich die ukrai­ni­sche Regie­rung und die Behör­den beherrscht. Sie beschul­di­gen den Westen, das Coro­na­vi­rus ver­brei­tet zu haben und behaup­ten, die USA würden in den Ländern der ehe­ma­li­gen Sowjet­union und in der Ukraine Bio-Labore betrei­ben, wo Men­schen­ver­su­che statt­fän­den, um das Virus wei­ter­zu­ent­wi­ckeln. Sie behaup­ten, Bill Gates hätte das Virus geschaf­fen, um Profit mit Imp­fun­gen zu machen. Eine andere Behaup­tung lautet, die Ame­ri­ka­ner hätten das Virus ent­wi­ckelt, um damit Schwarze und Muslime zu bekämpfen.

Auch heißt es in den Des­in­for­ma­ti­ons­kam­pa­gnen, die Reform des Gesund­heits­sek­tors in der Ukraine würde zu einem „Genozid“ (das Wort wird bei jeder Gele­gen­heit genutzt und miss­braucht) führen und deshalb sei die Ukraine nicht in der Lage, die Pan­de­mie zu bekämp­fen (wobei das Land offen­sicht­lich dazu in der Lage ist). Weiter heißt es, die EU nutze die Pan­de­mie, um ukrai­ni­sche Arbeits­mi­gran­ten los­zu­wer­den. Und natür­lich würde die EU der Ukraine ihre Hilfe ver­wei­gern (was nicht stimmt: Die Ukraine hat von der EU Unter­stüt­zung im Wert von 1,2 Mil­li­ar­den Dollar für den Kampf gegen die Pan­de­mie erhal­ten. Im Gegen­zug hat die Ukraine Ärzte und medi­zi­ni­sche Aus­rüs­tung in EU-Länder geschickt). Die fana­tischs­ten Falsch­in­for­ma­tio­nen ver­brei­tet leider auch die Rus­sisch Ortho­doxe Kirche in der Ukraine: Das Virus sei eine Strafe für unsere Sünden, heißt es. Die Einzige Mög­lich­kei­ten, die Sünden zu besie­gen, sei in die Kirche zu gehen, auch während der Pan­de­mie, auch mas­sen­weise und natür­lich in die Kirche des Mos­kauer Patriarchats.

Das alles mag absurd oder lustig klingen, ist es aber nicht. Diese Bot­schaf­ten appel­lie­ren an einen Teil der Ukrai­ner und könnten dem poli­ti­schen Revan­chis­mus den Boden bereiten. 

Über­ra­schen­der­weise schaden die Falsch­in­for­ma­tio­nen Prä­si­dent Selen­skyj bisher kaum. Er ist der erste Prä­si­dent, dessen Zustim­mungs­werte nach einem Jahr im Amt nicht gefal­len, sondern sogar gestie­gen sind. Darüber hinaus ist die Unter­stüt­zung für den pro-west­li­chen und euro­päi­schen Kurs stabil: Über 50 Prozent befür­wor­ten diesen Kurs, ver­gli­chen mit nur 13 Prozent, die sich für eine Union mit Russ­land aussprechen.

Während die meisten Falsch­in­for­ma­tio­nen gestreut werden, um Miss­trauen in der Bevöl­ke­rung zu wecken, sitzt Prä­si­dent Selen­skyj bis dato fest im Sattel und genießt – anders als alle anderen wesent­li­chen Poli­ti­ker der Ukraine – das Ver­trauen vieler Ukrai­ner. Sollte Selen­skyj die Ukraine langsam aus der Pan­de­mie her­aus­füh­ren, könnte er bei vielen in der Bevöl­ke­rung als Retter der Nation wahr­ge­nom­men werden.

Ein Paradox wäre dann, dass Selen­skyj das erreicht hätte, was sein Vor­gän­ger immer nur eifrig ver­spro­chen hatte: Das Land zu retten. Während der Wahl­kam­pa­gne 2019 hatte Selen­skyj diesen pro­fa­nen Slogan Poro­schen­kos als unzu­rei­chend abgetan. In einer Zeit wie dieser kommt es aber tat­säch­lich auf eine Rettung an.

Textende

Portrait von Volodymyr Yermolenko

Volo­dymyr Yer­mo­lenko ist ukrai­ni­scher Phi­lo­soph und Chef­re­dak­teur von UkraineWorld.org.

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