Ausgang der ukrai­ni­schen Lokal­wah­len: Eine Wahl­schlappe für Selenskyj?

Aus­zäh­lung der Stimmen im Wahl­lo­kal Nr. 26093 in Iwano Fran­kiwsk © Yurii Rylchuk /​ Imago Images

Die ukrai­ni­schen Lokal­wah­len enden mit einem Sieg der Loka­leli­ten. Die Prä­si­den­ten­par­tei Sluha Narodu/​ Diener des Volkes und andere natio­nale Par­teien erlei­den Rück­schläge. Damit wird die ukrai­ni­sche Politik frag­men­tier­ter. Eine erste Analyse von Mattia Nelles & Julia Eichhofer.

Gewin­ner der ukrai­ni­schen Lokal­wah­len vom 25. Oktober sind durch die Bank weg amtie­rende Bür­ger­meis­ter und die Loka­leli­ten. Wegen des geän­der­ten Wahl­rechts und der Pan­de­mie ver­läuft die Stim­men­aus­zäh­lung lang­sa­mer: in vielen Städten liegen nur Exit-Polls vor, deren Ergeb­nisse grund­sätz­lich mit Vor­sicht zu genie­ßen sind. Dennoch deuten sich bereits zwei Tage nach der Wahl klare Ten­den­zen an. Seit 2015 konnten die Loka­leli­ten in vielen Orten ihre Ämter und Beliebt­heit behaup­ten. Die Wech­sel­stim­mung, die 2019 noch das Land fest im Griff hatte und Selen­skyj haus­hohe Siege bescherte, scheint gänz­lich verflogen.

Mit fort­schrei­ten­der Dezen­tra­li­sie­rungs­re­form und Zuge­winn von Geldern und Befug­nis­sen waren die Lokal­wah­len die wohl wich­tigs­ten Wahlen seit Langem. Über 50 Par­la­ments­ab­ge­ord­nete kan­di­dier­ten auf lokalen Listen, selbst der Gesund­heits­mi­nis­ter Maksym Ste­panow trat in Odesa an. Dennoch lag die Wahl­be­tei­li­gung laut der Zen­tra­len Wahl­kom­mis­sion auf einem his­to­ri­schen Tief – bei ledig­lich 36,88 Prozent. Das sind fast 10 Prozent weniger als bei den letzten Lokal­wah­len 2015, der letzte Tiefst­wert. Nicht nur die Pan­de­mie, sondern auch die zuneh­mende Ernüch­te­rung der Bevöl­ke­rung gegen­über der natio­na­len Politik haben zu diesem Rück­gang geführt.

Triumph der Lokaleliten

In den zehn größten Städten setzten sich amtie­rende Bür­ger­meis­ter zum Teil bereits in der ersten Wahl­runde gegen ihre Her­aus­for­de­rer durch. In Charkiw, Sapo­rischschja, Mariu­pol und Win­nyzja gewan­nen die Amts­in­ha­ber sogar in der ersten Runde. Der umstrit­tene Char­ki­wer Bür­ger­meis­ter Gen­na­dij Kernes gewann mit über 60 Prozent in der ersten Runde, obwohl er sich seit Wochen in Behand­lung in der Ber­li­ner Charité befindet.

In fast allen Stich­wah­len gehen die Bür­ger­meis­ter als Favo­ri­ten in die zweite Wahl­runde, die in zwei bis vier Wochen statt­fin­den wird. 

In Kyjiw etwa muss Witalij Klit­schko höchst­wahr­schein­lich gegen Oleg Popow (Oppo­si­tion Platt­form für das Leben), einen ehe­ma­li­gen Minis­ter unter Janu­ko­wytsch, in die zweite Runde. Es gilt als nahezu sicher, dass sich Klit­schko gegen Popow, der die Regio­nal­ver­wal­tung Kyjiws während des Maidans führte, durch­setzt. Obwohl ein Bür­ger­meis­ter mit Janu­ko­wytsch Ver­gan­gen­heit in Kyjiw schlicht nicht mehr­heits­fä­hig ist, kann sein mög­li­cher Einzug in die Stich­wahl als ein Weckruf für die pro-euro­päi­schen Par­teien gesehen werden.

Über­ra­schend schlecht mit ledig­lich 34 Prozent schloss Hen­na­dij Trucha­now in Odesa ab. Der mäch­tige und mehr­fach wegen Kor­rup­tion ange­klagte Bür­ger­meis­ter lag in einigen Umfra­gen vor den Wahlen bei über 50 Prozent. In der Stich­wahl trifft der favo­ri­sierte Trucha­now auf Mykola Skoryk einen Kan­di­da­ten der pro-rus­si­schen Partei Für das Leben.

Sluha Narodu enttäuscht

In den 10 größten Städten der Ukraine schaffte es nur in Krywyj Rih, der Hei­mat­stadt des Prä­si­den­ten, ein Sluha Narodu Kan­di­dat in die Stich­wahl. Auch in der Klein­stadt Usch­ho­rod in Sakarpattja/​Transkarpatien kommt ein Sluha Kan­di­dat in die zweite Runde. Doch in den meisten Stadt­rä­ten ent­täuschte Sluha Narodu. In den 10 größten Städten schafft es die Partei mit Aus­nahme von Lwiw zwar in alle Stadt­räte. Aber in die sechs wich­tigs­ten Stadt­räte (Kyjiw, Odesa, Dnipro, Charkiw, Myko­la­jiw und Win­nyzja) kommt sie mit Ergeb­nis­sen zwi­schen 10 und 20 Prozent höchst­wahr­schein­lich nur als dritte, in Mariu­pol mit knapp 5 Prozent ledig­lich als viert­stärkste Kraft in die Gemeinderäte.

Nach Aus­sa­gen des Sluha Narodu Par­tei­vor­sit­zen­den Alex­an­der Kor­ni­jenko bei einem Pres­se­brie­fing nach der Wahl wurde Sluha bei fast 50 Prozent der aus­ge­zähl­ten Stimmen die stärkste Kraft in den Oblast Par­la­men­ten mit ca. 20 Prozent. Die Stimmen für Rajon­räte (ca. 17 Prozent) und Hromada Räte (ca. 15 Prozent) fallen wie­derum beschei­den aus. Die Ergeb­nisse von Sluha glei­chen in etwa denen vom Block Petro Poros­henko aus dem Jahr 2015. Ein Jahr nach den Par­la­ments­wah­len, bei denen unbe­kannte Kan­di­da­ten von Sluha Narodu ein großes Ver­trauen genos­sen und die Partei 43,16% der Stimmen erlangte, reicht heute alleine das Label der Prä­si­den­ten­par­tei offen­sicht­lich nicht mehr aus.

Popu­lis­ti­sche Maß­nah­men wirken kaum noch

Das schlechte Abschnei­den der Prä­si­den­ten­par­tei Sluha Narodu bei den Bür­ger­meis­ter­wah­len war grund­sätz­lich zu erwar­ten. Die Partei hatte es seit ihrem Wahl­tri­umph bei den Par­la­ments­wah­len im August 2019 ver­säumt, umfas­sende Lokal­struk­tu­ren auf­zu­bauen. Sluha Narodu ver­mochte es nicht, beliebte Kan­di­da­ten aus den Regio­nen für sich zu gewin­nen bzw. neue auf­zu­bauen. Gleich­zei­tig ver­wei­gerte die Partei früh­zei­tig mit Aus­nahme von Dnipro und Krywyj Rih eine Koope­ra­tion mit den Lokaleliten.

Die Partei des Prä­si­den­ten konnte selbst von den sta­bi­len Beliebt­heit des Prä­si­den­ten selbst, die nach wie vor bei 30 Prozent liegt, nicht pro­fi­tie­ren. Das obwohl Selen­skyj mehr­fach medi­en­wirk­sam im Wahl­kampf die Regio­nen bereiste, effekt­voll neue Straßen und Infra­struk­tur­pro­jekte eröff­nete und Mil­li­ar­den Hrywnja aus dem Corona-Fonds für Stra­ßen­bau im Rahmen seines “großen Bau­pro­gramms” inves­tierte. Selbst seine hoch umstrit­tene Wäh­ler­be­fra­gung, die zahl­rei­che Beob­ach­ter in Kyjiw als ein popu­lis­ti­sches Manöver ver­ur­teil­ten, konnte seine Anhän­ger nicht mobi­li­sie­ren. Bis zum Wahltag war unklar, wer die Kosten für die auf­wen­dige “Volks­be­fra­gung” über­nahm, welches Insti­tut die “Umfrage” über­haupt durch­führte und wie die Stimmen schließ­lich aus­ge­zählt wurden.

Frag­men­tie­rung der Politik

Die poli­ti­sche Land­schaft der Ukraine wird nach den Wahl­er­geb­nis­sen zuneh­mend klein­tei­li­ger und viel­schich­ti­ger. Die vielen in den Stadt­rä­ten ver­tre­te­nen Frak­tio­nen ver­hin­dern einer­seits eine Mono­po­li­sie­rung der Macht auf lokaler Ebene und gleich­zei­tig wirken sie einer Macht­kon­zen­tra­tion in Kyjiw entgegen.

Alle im Par­la­ment ver­tre­te­nen Par­teien gehen im Wesent­li­chen geschwächt aus den Lokal­wah­len hervor. Selbst Julia Tymo­schen­kos Vater­lands­par­tei, die als einzige aller Par­teien über jah­re­lange Struk­tu­ren in den Regio­nen verfügt, musste im Ver­gleich zu 2015 herbe Ver­luste hin­neh­men. Auch Poro­schen­kos Partei, die mit 30 Prozent beson­ders gut im Stadt­rat von Lwiw abschnitt, erlitt lan­des­weit Ver­luste auf Stadt­rats­ebene und konnte kein ein­zi­ges Bür­ger­meis­ter­amt errin­gen. Pro-rus­si­sche Kräfte, wie die Oppo­si­ti­ons­par­tei für das Leben und die neue Partei des umstrit­te­nen pro-rus­si­schen Blog­gers Sharij bleiben stärker im Süden und Osten des Landes.

All das deutet auf einen all­ge­mei­nen Poli­tik­ver­druss der Ukrai­ner auf ihre natio­na­len Par­teien hin, der sich in Umfra­gen seit der Eupho­rie des letzten Jahres immer wieder zeigte. In vielen Stadt­rä­ten müssen die herr­schen­den Loka­leli­ten mit den neuen Macht­ver­hält­nis­sen umgehen.

Die Schwä­chung der bestehen­den natio­na­len Par­teien auf lokaler Ebene eröff­net die Mög­lich­keit für neue, derzeit noch lokale Parteien. 

So könnte bei­spiels­weise die Partei Pro­po­si­tion, auch als Bür­ger­meis­ter-Partei bekannt, in den kom­men­den Jahren die wach­sende Poli­tik­ver­dros­sen­heit nutzen und als natio­nale Partei aufsteigen.

Seit Beginn der Corona Pan­de­mie stand die Zen­tral­re­gie­rung mit einigen Bür­ger­meis­tern im Kon­flikt um die Corona-Maß­nah­men. Bei stei­gen­den Fall­zah­len und dro­hen­den Lock­downs droht diese Span­nung wieder zu wachsen. Die not­wen­dige Koali­ti­ons­bil­dung in den Stadt­rä­ten könnte diese Span­nun­gen ent­we­der ver­stär­ken oder ver­min­dern, je nachdem ob Sluha Narodu in Koali­tio­nen ein­be­zo­gen wird.

In den Wochen nach den Wahlen wird sich zudem zeigen, wie sich Sluha Narodu mit seiner fra­gi­len Par­la­ments­mehr­heit zur Dezen­tra­li­sie­rungs­re­form verhält. Die lau­fende Reform, die der lokalen Ebene deut­lich mehr Befug­nisse und Finanz­ströme ermög­licht, muss noch dieses Jahr fina­li­siert werden. Dabei stehen Ände­run­gen der Ver­fas­sung an. Es wird span­nend zu beob­ach­ten sein, ob und wie Sluha Narodu geneigt sein wird, den herr­schen­den Loka­leli­ten Befug­nisse zu sichern, oder ob die Zen­tral­re­gie­rung sogar ver­sucht Teile der erfolg­rei­chen Reform zurück­zu­dre­hen. Letz­te­res würde zu einem Kon­flikt mit der EU und Deutsch­land führen, die die Reform maß­geb­lich unterstützen.

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