Auf den Spuren ukrai­ni­scher Rotarmisten

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Während des Zweiten Welt­krie­ges war die heutige Ukraine neben Polen und Belarus eines der Haupt­schau­plätze des Holo­causts und der großen Mas­sa­ker an der Zivil­be­völ­ke­rung. In der Roten Armee kämpf­ten in dieser Zeit sechs bis sieben Mil­lio­nen Men­schen aus der Ukraine. Olek­san­dra Bienert geht in ihrer Kolumne ihren Spuren nach.

Serhii Plokhy, Pro­fes­sor für ukrai­ni­sche Geschichte und Direk­tor des Ukrai­ni­schen For­schungs­in­sti­tuts an der Harvard Uni­ver­sity, beschreibt in seinem 2015 erschie­ne­nen Buch The Gates of Europe: a History of Ukraine, dass während des Zweiten Welt­krie­ges Ukrai­ner an ver­schie­de­nen Seiten des Kon­flik­tes teil­nah­men. „Die abso­lute Mehr­heit kämpfte in den Reihen der Roten Armee. In ihren Reihen wurden über sieben Mil­lio­nen Ukrai­ner ver­schie­de­ner Natio­na­li­tä­ten mobi­li­siert – jeder fünfte oder sechste sowje­ti­sche Soldat stammte aus der Ukraine. Über 3,5 Mil­lio­nen wurden zu Beginn des Krieges und unge­fähr genau so viele während des Krieges (ein­ge­zo­gen). Man schätzt aber auch, dass von einer Million sowje­ti­scher Bürger, die als Hilfs­wil­lige in den deut­schen Ein­hei­ten teil­nah­men, ein Viertel Ukrai­ner waren.“

Laut dem Ukrai­ni­schen Insti­tut des Natio­na­len Gedächt­nis­ses kämpf­ten sechs Mil­lio­nen Ukrai­ner in der Roten Armee. Von diesen Men­schen kehrte nur jeder zweite leben­dig zurück. Jeder zweite von denen, die am Leben blieben, hatte anhal­tende kör­per­li­che Schädigungen.

Repres­sio­nen nach der Rückkehr

Das Leid vieler, die zurück­kehr­ten, wurde durch sowje­ti­sche Repres­sio­nen fort­ge­setzt. Im Zuge der Beset­zung der ehe­ma­li­gen pol­ni­schen Ter­ri­to­rien durch die Sowjet­union wurden mehrere hun­dert­tau­send Ukrai­ner aus der West­ukraine nach Sibi­rien depor­tiert. Viele der zurück­ge­kehr­ten Zwangs­ar­bei­ter ver­bannte man als „Kol­la­bo­ra­teure“ in sowje­ti­sche Lager. Auch Rot­ar­mis­ten, die in der deut­schen Kriegs­ge­fan­gen­schaft oder in einer Ein­krei­sung durch die feind­li­che deut­sche Armee gewesen waren, mussten mit schwe­ren Repres­sio­nen rechnen.

In ihrem Beitrag zu der vor Kurzem gestar­te­ten Online-Reihe „Der Zweite Welt­krieg – 75 Jahre danach: For­schun­gen und Gedan­ken der ukrai­ni­schen Intel­lek­tu­el­len“ geht die His­to­ri­ke­rin Dr. Tamara Wronska auf die Gruppe der „Ein­ge­kreis­ten“ („Otot­schenzi“) unter den Rot­ar­mis­ten näher ein. Auf dem Ter­ri­to­rium der Ukraine gab es gleich mehrere solcher „Kessel“ – den Kyjiwer, den Char­ki­wer und den Umaner. Kämpfer der Roten Armee, die in diese gerie­ten, ver­such­ten meis­tens zu sowje­ti­schen Ein­hei­ten zurück­zu­ge­lan­gen. Schaff­ten sie das nicht, gerie­ten sie dabei in die Gefan­gen­schaft oder blieben sie auf dem okku­pier­ten Ter­ri­to­rium, so galten sie als „Lan­des­ver­rä­ter“.
Über die Gruppe der „Otot­schenzi“ ist beson­ders wenig bekannt, da sie kaum Erin­ne­run­gen hin­ter­lie­ßen und in der Nach­kriegs­zeit in der Sowjet­union nicht als „Helden“ gefei­ert wurden. Noch bis in die 1980er Jahre hinein fragte man bei der Arbeits- oder Stu­di­en­auf­nahme „Waren Sie oder Ihre Ver­wand­ten auf dem okku­pier­ten Ter­ri­to­rium?“, „Waren Sie oder Ihre Ver­wand­ten während des Großen Vater­län­di­schen Krieges in der Kriegs­ge­fan­gen­schaft oder inter­niert?“. Die Rot­ar­mis­ten, die in der Ein­krei­sung gewesen waren, so Wronska, mussten später in der Sowjet­union mit Repres­sio­nen rechnen. Ebenso, wie andere Gruppen, die man des „Lan­des­ver­ra­tes“ verdächtigte.

Psy­chi­sche Folgen des Krieges

Wis­sen­schaft­li­che Studien zum „Kriegs­trauma“ wurden in der Sowjet­union nicht durch­ge­führt. Auch wenn psy­chi­sche Stö­run­gen bei manchen sicht­bar waren, galt es in der Sowjet­union als „Feig­heit“, diese zuzugeben.

Der Schrift­stel­ler, Über­set­zer, Psy­cho­loge und Ger­ma­nist Jurko Pro­chasko, schlägt in diesem Kontext vor, über die Folgen dieses Krieges für jede ukrai­ni­sche Familie nach­zu­den­ken. In seinem Beitrag in der oben erwähn­ten Online-Reihe nennt er diese Folgen „uner­mess­lich“ („besmir“). Und er schlägt fol­gende Frage vor: „Was wäre nie in meiner Familie und also (nie) mit mir (pas­siert), wenn es diesen Krieg nicht gegeben hätte?“

Gehe ich Pro­chas­kos Frage nach, so möchte ich vor allem an meine Groß­el­tern väter­li­cher­seits denken. Ich besitze von ihnen nur wenige Fotos. Eins davon ist ein schwarz-weißes Foto von einer Feier. Auf dem Foto ist ein gedeck­ter Tisch zu sehen, drum herum stehen elf Men­schen und prosten ein­an­der zu. Der zwölfte foto­gra­fiert. Über dem Tisch – ein großer Spiegel an der Wand, daneben – ein Hut mit einer Feder, weiter – ein Fenster mit bestick­ten Vor­hän­gen. Der Tisch ist gedeckt, aber die Feier hat noch nicht begon­nen. Mitten drin stützt sich auf den Tisch eine schöne, groß gewach­sene Frau, die Haare zum Zopf gefloch­ten. Manche Men­schen auf dem Bild schauen ein biss­chen ver­träumt ins Objek­tiv oder in die Ferne.

In der Ecke stehen zwei, ein­an­der zuge­wandt, mit Gläsern in den Händen. Das sind meine Groß­el­tern, auf dem Foto sind sie beide 26 Jahren alt. Das, was zwi­schen ihnen pas­siert, sieht wie eine geheime Zere­mo­nie aus. Und es ist wirk­lich eine: sie feiern gerade ihre Hoch­zeit. Wie die anderen um sie herum, feiern sie auch das Kriegs­ende. Das Foto ist in Polen auf­ge­nom­men worden, es ist der 8. Mai 1945. Mein Groß­va­ter trägt die sowje­ti­sche Armee­uni­form und meine Groß­mutter ist im schwar­zen Kleid einer Kriegs­kran­ken­schwes­ter. Er kommt aus der Ukraine, und sie aus Belarus. Sie waren beide in der Roten Armee und haben sich während des Zweiten Welt­krie­ges kennengelernt.

Nach dem Ende des Krieges haben sich meine Groß­el­tern in einem Dorf in der West­ukraine, in der Nähe des Hei­mat­dor­fes meines Groß­va­ters, nie­der­ge­las­sen. Meine Groß­mutter hat weiter als Kran­ken­schwes­ter gear­bei­tet, und er fuhr eine längere Zeit mit „Pered­vi­zhka“, einer Art beweg­li­chen Kino­bi­blio­thek, durch die umlie­gen­den Dörfer. Es ging ihm weniger um die Inhalte des sich in jedem Dorf wie­der­ho­len­den sowje­ti­schen Films, als viel­mehr ums Geld­ver­die­nen, um seine Familie zu ernäh­ren. Die anderen damals ver­füg­ba­ren Jobs im Dorf, etwa der eines Poli­zis­ten, als welcher er im Auftrag der sowje­ti­schen Dorf­ver­wal­tung unschul­dige Men­schen hätte denun­zie­ren müssen, waren für ihn inak­zep­ta­bel. Später wurde ihm dieses Noma­den­le­ben doch zu viel, und er hat in einem Werk im Dorf gearbeitet.

Mein Groß­va­ter hat fünf Jahre des Krieges mit­ge­macht, war aus­ge­zeich­net worden und sprach über den Krieg sehr ungern, eigent­lich kaum, so mein Vater. Seine Erin­ne­run­gen und Erleb­nisse der Kriegs­jahre waren jedoch so prägend, dass er sehr früh von uns gegan­gen ist. Nicht nur ich habe ihn nicht ken­nen­ge­lernt, auch hat seine Abwe­sen­heit sich teil­weise dra­ma­tisch auf andere Fami­li­en­mit­glie­der aus­ge­wirkt. Diese Folgen spüre ich bis heute.

Textende

Portrait von Oleksandra Bienert

Olek­san­dra Bienert ist eine in der Ukraine gebo­rene und in Berlin lebende For­sche­rin und Aktivistin.

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